Institut für Kunstgeschichte

Forschungsprojekte

Kunstbetrachtung

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Konstellationen der Kunstbetrachtung in der Moderne und Gegenwart: Wirkungsutopien, Steuerungsstrategien, Spielräume


Finanzierung durch den Schweizerischen Nationalfonds (SNF)
Projektdauer: 2010 bis 2013

Leitung:
Prof. Dr. Peter J. Schneemann, Lehrstuhl für Kunstgeschichte der Moderne und der Gegenwart

Forschungsassistenzen / SNF-Doktoranden:
Dr. Simon Oberholzer
Dr. des. Marianne Wagner

Das Forschungsprojekt widmet sich der Geschichte der Kunstbetrachtung in der Moderne und Gegenwart. Die Kunstgeschichte muss sich der Herausforderung stellen, dass ein hohes Mass an Ausdifferenzierung von Wirkungs- und Betrachtungsmodellen im 20. Jahrhundert zu verzeichnen ist. Es gilt, die Pluralität dieser Modelle historisch zu systematisieren und in ihrer Funktion zu bestimmen. Der Begriff der „Kunstwahrnehmung“, wie ihn die Geschichte der Ästhetik herausbildete und wie er in der „Bildwissenschaft“ gerne wieder Verwendung findet, wird im 20. Jahrhundert in verschiedene Gesten und Rollen von „Betrachtung“ überführt und an konkrete soziokulturelle Interessen gebunden. Kategorien wie Freizeit, Konsum, Vermittlung und Vermarktung müssen neben das hermeneutische Deuten gestellt werden.

Das Kunstwerk allein kann die Betrachtung nicht mehr vorschreiben. Die Autorität des Kunstwerks ist abgelöst worden durch einen Prozess der Ausdifferenzierung als Produkt heterogener Interessen: Künstlerischer Wirkungsutopien, institutionelle Steuerungs- und Marktstrategien, gesellschaftliche Erwartungen und Verhaltensnormen. In diesem weiten Feld untersucht das Forschungsprojekt Konstellationen von Diskursen und Praktiken, unter denen der Vorgang der Kunstbetrachtung verhandelt wird. Ziel ist es, über die Betrachtungskonzeption und theoretischen Figuren hinaus die Kunstbetrachtung als breit dokumentiertes Phänomen zu untersuchen. Besondere Beachtung finden Dokumente, in denen sich normative Vorgaben durchsetzen, wie sich der Betrachter zu verhalten hat. Um das Vorhaben methodisch zu binden, ist die Verschränkung von ideengeschichtlicher Untersuchung und Bild- und Dokumentationsanalyse erforderlich. Das Forschungsprojekt erarbeitet eine umfassende Geschichtsschreibung.

Die hohe Relevanz des Themas wird im kulturpolitischen Diskurs deutlich. Hier findet eine Verschränkung von ästhetischen und ökonomischen Modellen statt. Kunstbetrachter werden als Zielgruppen angesprochen, Kunstwerke als Pop-Events inszeniert und Reaktionsweisen auf die Kunst in den verschiedenen Medien vorgeführt. 2005 verzeichnete das Wiener Leopold Museum einen Besucherrekord mit dem Angebot, beim Ablegen der Kleider für die Ausstellung „Die nackte Wahrheit“ den Eintrittspreis zurückzuerstatten. Die Geschichte dieser „Modelle“ der Betrachteraktivierung wurde bisher als eine Ideengeschichte der Partizipationskunst geschrieben. Diese lineare Geschichtsschreibung wird abgelöst durch eine Analyse der Wechselbeziehung von Interessen der Institutionen, Künstler und Gesellschaft.

Die Geschichte der Kunstbetrachtung ist ein komplexes Gefüge, in dem sich Vorstellungen der individuellen Freiheit und Emanzipationsprozesse abbilden. Der moderne Betrachter nutzt die Möglichkeit, seinen Spielraum auszuloten oder die ideale Betrachterrolle abzulehnen. Die Ausdifferenzierung von Wirkungs- und Betrachtungskonstellationen lässt sich in einem historischen Ablauf darstellen. Als Arbeitshypothese wird die Geschichte der Kunstbetrachtung in vier historiographische „Sequenzen“ (Kubler 1962) untersucht, in denen sich Problemstellungen als komplexe Verschränkungen von diachronen und synchronen Zusammenhängen konstituieren. Dieses Modell ermöglicht es, Konstellationen der Kunstbetrachtung zu isolieren und in einer Chronologie darzustellen, ohne sie einer teleologischen Struktur zu unterwerfen.

Constellations of Perception in Modern and Contemporary Art: Artistic Utopias of operation, Institutional Strategies of Control, Ranges of Participation


Funded by the Swiss National Science Foundation (SNF)
Project duration: 2010 to 2013

Head:
Prof. Dr. Peter J. Schneemann, Chair , Modern and Contemporary Art History, Department of Art History, University of Berne

Research Assistants/ SNF Doctoral candidates:
Dr. Simon Oberholzer
Dr. des. Marianne Wagner

This research project focuses on the history of art perception of modernity and the present. Art history must face the challenge of observing the high degree of differentiation within 20th century models of effect and perception. It is necessary to arrange the plurality of these models within an historic framework and, moreover, to identify them in their specific roles. The term “art perception”, as formed by the history of aesthetics and willingly re-appropriated within certain domains of “visual culture,” was, in the 20th century, transferred to various gestures and roles of “perception” and connected to concrete socio-cultural interests. Categories like leisure, consumption, communication and commercialisation need to be placed alongside hermeneutic interpretation.

The artwork itself can no longer prescribe perception. The authority of the artwork has been replaced by a process of differentiation and has become a product of heterogeneous interests: artistic utopias of operation, institutional control and market strategies, societal expectations and models of behaviour. In this broad field, the research project will analyse constellations of discourses and practices, among which the process of art perception is to be dealt with. The aim is to go beyond the concept of perception and theoretical questions in order to investigate art perception as a widely documented phenomenon. Of particular interest are those documents that enforce normative standards of viewer behavior. In order to fix this project to a methodology, it is necessary to intertwine inquiries within aspects of the history of ideas with an analysis of images and texts. The research project will develop a comprehensive historiography.

The high relevance of this topic becomes apparent in interlacing of various fields of aesthetics and economic. Art viewers are addressed as target groups, art works are staged as pop events, and modes of reactions to art are presented in different media. In 2005, the Leopold Museum in Vienna observed a record number attendance when visitors were asked to drop their clothes in return for admission refund to the exhibition “Die nackte Wahrheit “(“The naked truth”). So far, the history of these “models” of activating the viewer has been treated as a history of ideas of participatory art. This linear historiography will be replaced by an analysis of the interaction between institutional interests, artist, and society.

The history of art perception is a complex structure, in which conceptions of individual freedom and processes of emancipation are represented. The modern viewer uses the opportunity to assess his range or to reject the role of the ideal observer. The differentiation of constellations of art perception can be represented in deducible time frames. As a working hypothesis, the history of art perception will be examined in four historiographical “sequences” (Kubler 1962). In each of these sequences one problem constitutes itself as a complex combination of diachronic and synchronic contexts. This model makes it possible to isolate constellations of art perception and to display them in a chronology, without subjecting them to a teleological structure.